Tagebuch

Foto Hans Sigmund


9. November 2012.

Es heißt, dass im November 1944 die Bomben direkt über dem enormen Münster ausgeklinkt wurden. Dann stürzten sie, im Flugtempo der Royal-Airforce-Maschinen, nicht auf die Kathedrale, sondern dahinter oder, je nach Flugrichtung, links oder rechts daneben.

Trümmer-Trauma. Am Kriegs-Ende war ich neun. In Freiburg hieß bis dahin die Hauptstraße Hitlerstraße, so wie überall und auch in Essen ("Krupp-Stadt", "Waffenschmiede des Reiches"). In Essen war sie im Herbst 1945 noch nicht gar so gut aufgeräumt wie in Freiburg. Auch in Essen war das Münster stehen geblieben.

Warum nur musste einer aus Essen auf fast 900 Seiten von einem Drachentöter erzählen. Realistisch und nach den ältesten Quellen. Und dann fast 700 Seiten lang von einem romantisch verspielten Ensemblekünstler und Theatermusiker, vom 1848er Lortzing. Und nun von einem explodierenden Atomkraftwerk vor Freiburg. In drei Monaten erscheint das Buch.

Für den Neunjährigen war 1945 der Drache real unterwegs. Hatte in Essen nicht nur das (romanische) Münster stehen lassen, sondern auch die Synagoge, einen mächtigen Kuppelbau im maurischen Stil. Seit 1971 will der Drache nun über den Rhein, drängt von Fessenheim nach Freiburg und von dort in die ganze tüchtig aufgeräumte Republik.

Heute ging das Manuskript "Fessenheim" an den Verlag in Tübingen.
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30. November 2012. - Wie berauscht fotographiere ich von meinen Freiburger Balkons Sonnenuntergänge, Wolken, Vogesen. Den Südwesten, in dem fast immer auf theatralische Weise die Sonne verschwindet, ziemlich genau über dem neuen Drachen, über Fessenheim, auf der französischen Rheinseite, wo das Atomkratwerk in nur 18 Kilometern Entfernung steht. Der Kirchturm vor der Wolke ist der südlichste Punkt Freiburgs, das ist die Kirche "Sankt Georg" im Vorort "Sankt Georgen". Einst war auch Georg ja wohl ein Superheld, als Drachentöter.  


"Ein Wetter steht grad über der Erd. Wann's nur ins Württembergische fährt. - Denn tät es sich bei uns entladen, dann hätten wir, weiß Gott, Hagelschaden."

Wörtlich so dichtete im Badischen um 1840 Johann Gottlieb Biedermeier (Ludwig Eichrodt). Das kann ich auswendig und kriege damit noch bei jeder Lesung (aus den "Schwarzwaldgeschichten") heftigen Lacherfolg, schon nach dem Wort "fährt". Hier, im Sommer 2011, im "Sonnenhof" im Viertel "Vauban".


2. Dezember 2012 (1.Advent) - Im katholischen Freiburg wie im Schwarzwald läuft seit je allerhand Weltbewegendes. Nicht nur weil ein Mönch namens Schwarz für den "Westen" das Pulver erfand. Vielleicht auch, weil man man hier gern und rasch und viel geglaubt hat, zum Beispiel, dass ein Herr Amerigo die Neue Welt entdeckt hätte. Und so notierte 1507 der nachmals berühmte Kartograph Waldseemüller auf seiner ersten kugeligen Weltkarte (das zwölfblättrige Abbild seiner Karte hab ich hier aus der Badischen Zeitung geschnitten und um einen Tennisball gewickelt), damals notierte der da, wo ein erstes Stück der "Neuen Welt" zu zeichnen war (Florida), das Wort "America", gutgläubig nach dem Lügner Amerigo. Und deshalb heißt der weltbewegende und glaubensstarke Kontinent seitdem Amerika.





Und wenn ich diese Noten betrachte und diese Wörter aus dem Frühling des Jahres 1848, werde ich immer neu melancholisch. Geschrieben wurde dies im März des europäischen und auch des deutschen Freiheitsversuchs. Das ist ein Ausschnitt aus einer unbekannt gebliebenen deutschen Freiheitsoper, aus dem Jahr 1848, erdacht ab März, am Ende des "VorMärz". Man kann dieses Notenbild anklicken, dann wird es größer und besser lesbar. Da steht: "...viel! beschloßen ißt, zu Ende sei, die Knechtschaft und die Tyrannei! wir werden ...". Es handelt sich um Seite 23 von fast 665 Partiturseiten der Freiheitsoper REGINA von Albert Lortzing. Hier geht es um das Vorspiel, um nichts weniger als um den ersten Arbeiterstreik, der je auf eine Bühne sollte. Und der im 19. Jahrhundert prompt nie auf die entsprechenden Bretter und fast auch nicht im zwanzigsten, erst 1998 in Gelsenkirchen. Die beiden letzten Worte "wir werden" seztzen sich fort auf Blatt 24 : (wir werden) "Recht uns jetzt verschaffen, wenn nicht mit Worten, dann mit Waffen."

Genauere Auskünfte liefert diese Website unter "Essays". Dort zitiert schon die Überschrift ein Wort aus dem Finale dieser ignorierten Oper: "Nun kommt der Freiheit großer Morgen". Obwohl schon im Vorspiel der "Vorarbeiter" Richard ("Zweifler") gesungen hatte: "Ich glaube kaum den schönen Traum - - - "

Dieser große Morgen, der kam dann auch prompt nicht. Nach 1848 kam ein "Kartätschenprinz" (Kartätschen sind Sprenggranaten) und der wurde 1870/71 Kaiser Wilhelm I., nach ihm kamWilhelm II. und dann - - - Auch in Freiburg hab ich versucht, Interesse für diese Freiheitsoper zu wecken. Hab darüber mehr als tausend Seiten publiziert (siehe unter "Bücher": "Lortzing", aber auch "Salamander"). Hab damit aber wohl die Freiburger und die Freiburger Theaterleitung nur erschreckt.

Seit Jahren kam vom Theater nie eine Antwort. Lortzing gilt nämlich als "unpolitisch". Basta. "Beschloßen ißt". Lortzing war der erste Opernmacher, der zu den entscheidenden Figuren einer Oper Fabrikarbeiter machte, war der erste, der seine Text selber schrieb, noch vor Wagner. Sein seltsames "ißt" wurde damals manchmal so geschrieben. Dieser Komponist und Textscxhreiber war freilich nachweislich in keiner Schule, in einer Musikschule schon gar nicht. Als Kind und am Lebensende hatte der "ißt"-Schreiber oft Grund, ans Essen zu denken, zum Beispiel mit 12 Jahren in Freiburg, als er im "Kornhaus" zum erstenmal auf einer Bühne stand (und dann in seinem Leben noch weitere gut zehntausend Mal). Es heißt, sein Tod kurz nach 1848 war in jeder Weise ein Hungertod. "Beschloßen ißt". Nach 1848 waren seine komisch romantischen Spielopern aus dem "Vormärz" (VOR dem März 48) gut hundert Jahre lang die im deutschsprachigen Revier meistgespielten Opern. Die Leute liebten sie, auch ich, schon als Kind. Werden heute nicht mehr gespielt. Sind ja unpolitisch. REGINA kennt keiner.

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9. Dezember (2.Advent) - Selbst im lieblichen und hochmusikalischen "Frei"-Burg können Freiheits- oder Opernsachen hart ignoriert werden. Zum Beispiel in dem Sommer, in dem sich junge Leute die Freiheit nahmen, auf einem ungenutzten Grundstück im "Vorbildviertel" Vauban eine lustige Kistenburg zu bauen und darin zu wohnen und zu feiern.

Aber da kam am 3. August um vier Uhr morgens dieser Lindwurm aus der Stadt und nahten tausend (!) Polizisten mit Ramm- und Räumgeräten. Die fünftausend Bewohner des "Vorbildviertels" Vauban blieben einen vollen Tag lang eingekesselt. Obwohl die jungen Leute schon am Abend zuvor ihre lustige Burg verlassen hatten. Selbst die Straßenbahn, die sonst alle sieben Minuten zur Stadt fährt, kam an diesem Tag nicht mehr durch. So hat halt selbst das freiheitliche Freiburg Probleme mit dem Frei-Sein. Und mit Freiheitsopern.




12.12.12. - Auch das ist in FreBurg kaum anders als in Essen, wo vormals Äbtissinnen das Sagen hatten. Heute ein Bischof und der Energie-Riese RWE und die große Stahlfirma Thyssen-Krupp und immer noch Bergbau-Chefs. Auf Essens Haupt- und zeitweiliger Hitler-Straße war lange als einzige Stücke Kunst ein Krupp-Denkmal zu sehen und ein Reiterstandbild. Dessen Sockel sieht man hier unten. Pferd und Reiter sind aus Bronze, Stadt und Stahlfirma weihten dies Kunst-Stück 1906 jenem ersten Kaiser Wilhelm, der bekanntlich (siehe "Salamander" und "Fessenheim") seit 1848 handfest Demokratisches in Deutschland verhindern konnte. Nicht nur die Freiheitsoper REGINA.

Im März 1848 tat er das auch mit Volksmord, mit den Splittergranaten, den Kartätschen, das ergab in jenem März 250 Zerfetzte. Der "Kartätschenprinz", so nannte ihn das Volk in Berlin, der wurde dann Kaiser Wilhelm I. . Er und Wilhelm II verhalfen Essens Stahlfirma kräftig zu Aufträgen und zum Aufstieg ,und Wilhelm II ließ aus der Paulskirchen-, Freiheits- und Demokratie-Oper REGINA eine Hass-Oper gegen Frankreich machen. Was will da ein einzelner Protestler. Wenige Minuten nach dem Foto unten kamen auch in Essen Streifenwagen. Polizisten stoppten mich und erstatteten Anzeige. "Verstoß gegen die Versammlungs-Vorschriften." "Wo ist hier 'ne Versammlung?" hab ich noch gefragt, "bin doch allein."



Im westlichsten Europa, im irischen Galway läuft so was trotz aller uralt katholischen Aufsicht sehr viel freier. Hier zeige ich mit Freundin Mave zweifellos ungebührliche Gesten (bei einem Kunst- und Straßenfestival). Der nördliche Teil Irlands ist halt immer noch englische Kolonie. Statt der Polizei kam in Galway dann Leute vom "Galway Advertizer", deren Interview steht hier auf Seite 1 der Homepage.




16. Dezember 2012 - Dieter (rechts) und Hermann sind zwei von denen, mit denen ich 1956 in Essen das Abi machte, im mathematisch-naturwissenschaftlichen Helmholtz-Gymnasium. Dieter war der Klassen-Primus, Hermann (Bergmannssohn) der Beste in Latein. Hier stehen sie 2011 in Xantens römischem Museum. Dieter wurde Doktor-Ing. und Professor an der TU Darmstadt, Spezialität Hochspannung. In Darmstadt zeigte er uns beim Abi-Treffen 2010 künstlich echte Blitze. Hermann wurde Studienrat für Latein.

Und als mir 1999 klar geworden war, dass der reale Drachentöter SiegFried Latein gekonnt haben muss (just so wie Arminius und wie Attila, die beide in Rom so was wie Austauschstudenten gewesen sind, das ist historisch belegt), da hab ich dem Bergmannssohn meine fast 900 Seiten "Nibelungenchronik" als Manuskript zu lesen gegeben. Er staunte, so gut sei ich in Latein doch eigentlich nicht gewesen. Er fand aber doch noch einige Fehler, im Schnitt alle 18 Seiten einen.

Hermann ärgert sich manchmal über schlechtes Latein, wenn etwa die FAZ täglich druckt In medias res, was natürlich in gutem Latein Medias in res heißen müsste. Schon am Hof zu Worms, so war mir klar, verstand König Gunther weder Keltisch noch Latein noch diesen frühen Gastarbeiter, den SiegFried, Krimhild dagegen und auch ihr Lieblingsbruder Giselher und leider auch Hagen, unser erster Politiker, die drei kannten sich da besser aus. Der Gast aus Xanten (der helt von niderlant) beherrschte die Herrschaftssprache. Freilich nicht nur die.

Unser Abitur war also 1956 - in dem Jahr, in dem Deutschlands "Wiederbewaffnung" begann. Dann auch mit Atomwaffen, unter US-Kontrolle. Atomwaffen nannte Kanzler Adenauer damals "Weiterentwicklung der Artillerie".

21. Dezember 2012. - Heute hätte Weltuntergang sein müssen, laut MAJA-Kalender. Auch an diesem TagIch wohne ich, wie seit fast acht Jahren, so zauberhaft wie noch nie in meinem Leben. Ich hause mit Bille in einer Turmwohnung, mit vielen Balkonen und mit Blicken nach allen vier Himmelsrichtungen. Freilich auch im Windschatten des Drachen. Im Südwesten, in 18 Kilometern, da steht der Doppelreaktor Fessenheim, der ältesten der Franzosen. Blicke von den Balkons:

Nach Norden die Stadt und das Münster


 

Nach Westen das Viertel "Vauban" und der Schwarzwald

Nach Süden der spezielle Schönberg, ein "Zeugenberg" (siehe "Salamander"). Freilich fehlen da jetzt die Schwertschnabelkolibris, deren Zungen lang genug wären für die Trompetenblumenblüten

Nach Westen, über Vogesen, Kaiserstuhl und AKW das Wolkentheater, die Sonnenuntergangspracht und nach dem Gewitterregen die dampfenden Vogesen.


24. Dezember 2012. - Und die Literatur? In Freiburg spielte sie lange eine kaum entdeckte Rolle. Entdeckt wurde sie immerhin und ausgerechnet im Rathaus, bei den jährlichen "Freiburger Literaturgesprächen". Hier ein Bild vom ersten der bis jetzt 25 Gespräche im Ratssaal, da blieb nur noch Platz auf der Treppe. Wo sonst das Stadtoberhaupt thront und regiert, da las nun jemand eine Geschichte. Damals freilich nichts über Fessenheim.



Silvester 2012. - Das kommende Jahr bringt mir mit "Fessenheim" zum etwa dreißigsten Mal den vermeintlichen "Renner". Aber bislang war ja dann fast immer alles ganz anders. Größerer Erfolg kam immerhin mit dem Erstling "Anita Drögemöller" 1975. Und 25 Jahre später mit der Nibelungenchronik "Siegfried und Krimhild". Lieferten die anderen Bücher Deprimierendes? Immerhin, auch Anita wurde gleich auf den ersten Seiten beerdigt, und Siegfried wird bekanntlich übelst hintergangen. Ist es so, dass ich Dinge erzähle, die einfach nicht gar so gern gemocht werden?

2012 also ein massenmordgefährliches Atomkraftwerk. Will diese Zeitbombe wirklich jemand ticken hören? Hinterm Schwarzwald, in Bayern oder in Berlin hält man das AKW am Rhein eh für ein Problem der Freiburger. Seit 1971 war und ist Fessenheim nur im deutschen Südwesten Gegenstand kämpferischer Artikel, der Journalismus hat vieles versucht, auf den Skandal aufmerksam zu machen, vor Ort gab es immer neu Agitationen mit Demos, Flugblättern, Transparenten und Sprechchören. Freilich wurde das nie die Sache von Mehrheiten, und "Literatur" wurde das schon gar nicht . Doch gegrollt wurde seit Robert Jungks "Heller als tausend Sonnen" (1956).

Die Novelle "Fessenheim" ("unerhörte Begebenheit") ist der Versuch, die selbstmörderische AKW-Zumutung erzählerisch anzugehen, die radioaktive Strahlung, den Müll, die Kernschmelze. Wird das Belletristische wirksamer sein als all die bisherigen journalistischen Empörungen? Weswegen soll das plötzlich "mehrheitsfähig" werden? Wegen Fukushima?

Vielleicht deshalb, so hoffe ich, weil die tödliche Potenz diesmal aus akuten Fakten hochgerechnet wird, weil sie nicht nur mit lebhaften Figuren verknüpft ist, nicht nur mit sehr privaten bis intimen Interessen von realistisch handelnden Personen, sondern weil sie auch mit einer sehr alten und tief greifenden kulturhistorischen Entwicklung am Oberrhein operiert, nämlich mit jenen Hoffnungen und Erwartungen, die sich früh den Namen "Humanismus" verdient haben und den Rechtsstaat vorbereitetn und 1848 und die sich neuerdings konkretisieren in dem Wunsch, dieses hochgefährdete Freiburg müsse "Europas Kulturhauptstadt" werden. Also suggeriert die Novelle am Ende doch auch Positives, ganz konkret eine Aktion für die Massenmedien, eine spektakuläre und demonstrative Evakuierung der Stadt als Versuch, die vorhandenen lächerlichen Notpläne ernst zu nehmen in einem allgemeinen Flucht-Manöver. Fünfhunderttausend Leute jeden Alters fliehen vor den blauen Blitzen des explodierenden Ungeheuers, wollen sich aus der radioaktiven Wolke hinausretten hinter den Schwarzwald.

Aber auch diese fiktiv realistische Rettungs-Randale liefert ein mörderisches Ende in Aussichtslosigkeit. Wo bleibt auch diesmal das Positive? - vielleicht nur in der kühlen Einschätzung des Oberbürgermeisters, der die Idee "Kulturhauptstadt" stoppt, weil er seine Freiburger "Kulturkäuze" zu genau kennt, um nicht zu wissen, dass sie beides niemals schaffen würden, den Titel "Kulturhauptstadt" so wenig wie das Totalmanöver Rettung und Massenflucht. Also kann es getrost weiter ticken in Fessenheim. "Schau, das dort, das ist die Erde gewesen." Hebel.



7. Februar 2013 - Freunde bekommen derzeit folgenden Brief, mit Foto:

Liebe Freunde, 

mein Foto zeigt aus fast 3000 Metern Höhe den „Sankt Andreas“-Spalt in Kaliforniens Wüste Carrizo. Den Riss in der Erdkruste sieht man von Nord nach Süd, mit zwei deutlichen Verschiebungen Ost-West. „Andreas“ zerriss 1906 San Francisco und ließ die Stadt in Flammen aufgehen. In dieser Nacht war dort im prachtvollen Opernhaus „Carmen“-Premiere, der berühmte Tenor Caruso hatte im Finale Carmen gerade noch erstechen können, der örtliche Rezensent konnte sogar noch in Druck geben, die Premiere sei glänzend gelungen: „Caruso saved „Carmen““. Dann zerbrachen Stadt und Opernpalast, und Caruso wollte für kein Geld der Welt mehr nach San Francisco.

Meine Novelle „Fessenheim“ (ab 20.2. bei Klöpfer & Meyer) erzählt geologisch präzise von einem (erdgeschichtlich häufigen) Beben zwischen Hochrhein und Oberrheingraben (1356 ruinierte ein Beben die Stadt Basel) und berichtet, wie ausgerechnet in dieser Region das älteste französische Atomkraftwerk gebaut wurde, Fessenheim. In seinem Windschatten liegt die Bundesrepublik. Gleich zu Beginn explodiert Fessenheim, binnen Minuten wird Freiburg unbewohnbar, eine radioaktive Wolke zieht über Stuttgart bis Berlin. Diese Schneise quer durch die Republik ist nun „betretbar nur auf eigenes Risiko“.

Das entpuppt sich zwar als realistisches Szenario von Journalisten, zugleich aber auch als Blick auf eine unverantwortliche Zumutung, auf das weltweit verdrängte Risiko der Atom-Energie und ihr Katastrophen-Kalkül. Gegen die totale Hilflosigkeit der „Notfall-Pläne“ versucht diese "littérature engagée" so etwas wie eine letzte Empörung. Aber am Anfang der Novelle steht ein Beben, nicht das, was ebenso wahrscheinlich und mööglich wäre, kein Terror, weder per Panzerfaust noch durch Hacker-Künste, sondern die Natur - ein Beben. Das ist für Freiburg also fast noch romantisch, "erdnah". Das nutzt dann Direttissimas quer durch Politik, Kultur und Regio, auch durch den Berlin- und Medien-Betrieb. Und gut identifizierbare Liebessehnsüchte. 

Es grüßt euch Jürgen  L  (laut Verlagsvorschau nun „Lostreter“) und lädt ein zur ersten Lesung in Berlins Rudi-Dutschke-Straße 23 am 14. März um 19 Uhr, also ins TAZ-Café. Moderation hat Elke Schmitter (TAZ und SPIEGEL)



6. April 2013 - IM  TIEFSCHLAF

„Wenn es plötzlich Bumm macht“ – mit dieser Schlagzeile erschlägt die Freiburger BZ mein Testament. Einen Text mit solcher Überschrift würde ich nie lesen. "Bumm" fand ich nie interessant, ein Wort wie „Bumm“ kommt in meinen ca 30 Büchern und auch auf den 144 Seiten der Novelle nirgends vor. Die tödlich radioaktive Wolke, um die es da geht, die weht lautlos und ist unsichtbar und ist schon über Freiburg, wenn die Alarmsirenen noch überlegen, ob sie heulen sollen. „Plötzlich“ Bumm? Die Katastrophe benötigt alle 144 Seiten des Buchs zur Vorbereitung, braucht Geologie und Hydrologie und Nukleartechnik und Philosophie und Politik. Freilich wird diese Vorbereitung zeitlich verkehrt herum erzählt, rückwärts, was vielleicht nicht bemerkt wurde oder überblättert. Jedenfalls nicht verstanden. Oder war zu kompliziert und uninteressant, obwohl da immer mal wieder Worte auftauchen wie Aufschrei und Hilflosigkeit.

Der Text beginnt mit Europa, fast mit einer Anrufung, und er endet mit Europa. Wurde gleichfalls nicht wahrgenommen. Statt dessen ist da zu lesen, ich hätte „Lortzing“ als „Lieblingskomponist“ „eingeschmuggelt“. Weder „Lortzing“ kommt auf den 144 Seiten vor noch „Lieblingskomponist“ . „Lieblingskomponist“ ist eh abgrundblöde – wären dann Mozart und Brahms und all die anderen abgemeldet? plötzlich? mit Bumm?

In der Tat gab ich dem solitären Musiktheatermann Lortzing (sein erster von cirka zehntausend Bühnen-Auftritten war in Freiburg) in anderen Büchern gut tausend Druckseiten, diesem verspielt romantischen Vielstimmigkeits- und Ensemblekünstler und Familienvater, diesem in jeder Weise verhungerten 1848er. Schon er selber fand Mozart unerreichbar, und als ihn 1842 ein Kritiker fragte, welcher von den tausend Komponisten seiner Epoche – der VorMärz-Zeit – dereinst wohl noch genannt werden dürfte, da nannte diese Lortzing, der nie auf einer Schule war, die Namen Schumann und Mendelssohn.

Das Überblättern oder dreiste Nichtlesen wird grotesk, wenn in der Freiburger Zeitung schließlich die Frage auftaucht, was denn „Europas Kulturhauptstadt Freiburg“ eigentlich mit dem Atomkraftwerk Fessenheim zu tun hätte. Deren miteinander Zu-Tun-Haben ist der fortwährend variierte Knackpunkt der Erzählung, das erörtern hier alle Personen ständig und immer neu, sogar der Pressesprecher der Kanzlerin hält darüber einen ziemlich genauen politischen Vortrag (S.72 ff). Dieser so politische wie literarische und existentielle Dollpunkt der Novelle (Ausstieg aus der Atomkraft, der Einstieg in ökologische Energien als neue „Kultur“), der überfordert offenbar, wurde nicht kapiert oder gar nicht erst gelesen. Aber man wusste Bescheid. „Bumm“.

Ignoriert blieben Erkenntnisse wie "unlösbar" - zum wahrlich "nachhaltigen" Problem des Planeten für die nächsten Millionen Jahre, zur Plage mit den inzwischen hunderttausenden Tonnen Atommüll. Statt "unlösbar" lieber „Lieblingskomponist“ oder „einschmuggeln“ und "Bumm" und kein einziges Wort von den tatsächlich auftretenden Johann Peter Hebel oder Adalbert Stifter oder Rosa Luxemburg, auch nicht von Paracelsus oder Kopernikus oder von Vater und Sohn Döblin oder von Rosa Luxemburg oder von Erasmus von Rotterdam und all den anderen Figuren, die in dieser Novelle die Akteure beschäftigen, nicht nur die Geologin, sondern auch den Sunny-Boy B.B. oder den „nachglühenden“ Alten. Wie sehr die oben aufgezählten Gestalten den Text strukturieren, vor allem der dreimal erscheinende Hebel („Vergänglichkeit“), hätte in Freiburg vielleicht auffallen dürfen, hatte ich gehofft. Auch dass fast alle Gespräche nachts stattfinden, was markiert ist schon durch die Kapiteltitel „Die Nacht mit Franz“, „Die Nacht mit Kim“, „Die Nacht mit Petra“. Hatte ich gehofft.

 Auch über meinen letzten Roman „Salamander“ hat die BZ schlagartig Bescheid gewusst, gleichfalls ohne Textkenntnis. In Freiburg hatte ich seit 1956 sieben Jahre studieren können – ja, auch Geologie – mit mehrfachen akademischen Abschlüssen, und hatte mir dann in meinen dreißig literaturkritischen Jahren beim Fernsehsender die Stadt Freiburg sehnsuchtsvoll vorgestellt oder erhofft, als Alterssitz? War wohl zu beeindruckt gewesen vom Lesen der damaligen BZ-Leute Jörder oder Fürst.

 Nachts, wenn nichts mehr ablenkt und die tödliche Gefahr Fessenheim gesprächsweise immer deutlicher wird, dann kann es in Freiburg auch jetzt noch über den Wolfgang Döblin oder über die Geologie zu existentiellen Gesprächen kommen, dann kann man durchaus „plötzlich“ zu anderen Ansichten gelangen, zum Beispiel über Erdzeit und Menschenzeit. Gewiss auch über unser politisches Absurdistan, oh ja, dieses „Wahnwitzige“, das musste für die Novelle "Fessenheim" gar nicht erst erfunden oder "novelliert" werden, das ist auch in Freiburg einfach vorhanden, wie in der Republik und weltweit.

Also keine Kampagne. Sondern Tiefschlaf. „Fessenheim“ ist halt nicht für jeden geschrieben. Nur, notfalls, für alle.

Der Philosoph Günther Anders definierte den modernen Menschen als "apokalypse-blind". Kürzlich, am Ende eines spannenden Lese- und Gesprächs-Abends, murmelte eine Hochbetagte, ein Wort wolle sie sich unbedingt merken und mit nach Hause nehmen. Welches? Sie konzentrierte sich, und dann: Dass Atomkraft nichts anderes ist als eine „hoch intelligente Hirnlosigkeit“. Auch die Berliner TAZ, so locker sie sonst gern tut, nun warb sie für das Buch mit der Schlagzeile „Des Fortschritts nachhaltiger Skandal: Atomkraft“.

Nicht nur im Alter sind Trost und Witz dringend nötig, zum Beispiel die in der Novelle verehrte Schrift des Erasmus von Rotterdam, sein 500 Jahre altes „Lob der Torheit“. Nötig ist das auch für den immer wahrscheinlicheren Untergang, für die reale Hilflosigkeit einer so wunderbar wunderlichen Stadt wie Freiburg.

Auch Erasmus wohnte mal an diesem Ort, auf den immer mal wieder all dies zutrifft: human - liberal - katholisch. Ein einzigartiger Ort, nun auch in seiner Gefährdung. Mehr und mehr irritieren mich zum Beispiel diese gelben Fahnen, die hier immer noch in vielen Fenstern hängen, vor allem im Stadtteil Vauban. Da wird der Atomkraft "danke" gesagt. Dankbarkeit will mir bei Fessenheim einfach nicht kommen, nicht mal übers Ironische. - - - - Foto: Matthias Körnich Dieses "Danke" erinnert mich an jene streng erzogene Wiener Kaisertochter Marie-Antoinette, die auf ihrem Weg von Wien nach Paris auch über Freiburg kam - damals war ja Freiburg seit Jahrhunderten österreichisch - und die aus Dankbarleit ihren Überstzern in Kappel das Fischrecht zusprach und die am Ende so höflich war, dass sie noch auf dem Schafott dem Henker eine Höflichkeitsfloskel sagte. Als Ruhrmensch hielt ich mich in meinem letzten Roman und nun auch in der letzten Novelle an den 90jährigen Stéphane Hessel, zitiere hier wie dort sein "indignez vous!", sein "empört euch!" In der Hoffnung auf die andere, die Gegenkultur.

Aber Freiburg wird derzeit heimgesucht von drei Plagen oder Treppenwitzen. Der erste ist, dass ausgerechnet dieser frühe Ort alternativer Energien und ökologischer Wege hart bedroht ist von einem zerfallenden Atomkraftwerk. Die zweite ist, dass ausgerechnet diese alte Stadt der Humanität und nun einzigartig gefährdete grüne Pionierstadt sich nicht bewerben soll um den Titel „Europas Kulturhauptstadt“. Als wäre das nicht ein Signal für ein anderes, für ein trotz allem überlebensfähiges Europa. Die dritte Plage ist der Treppenwitz, dass dies Basta gegen die Gegenkultur ausgerechnet die verfügen, die hier als "Grüne" das Sagen haben.



Leserbrief in der Badischen Zeitung am 5.4.2013 - - - die Schlagzeile formuliert jeweils die Zeitung.


2. Mai 2013 - Über die Novelle zwar lebhafte Privat-Echos und Dispute - in den Feuilletons aber wird geschwiegen oder nicht verstanden. Oder es kann dort nicht mehr akzeptiert werden, dass Literatur "engagée" sein kann, Sachverhalte mitteilten, sogar zündende. Brennend. Tödlich.



20. Juli 2013 - Nun hat doch auch die große Stuttgarter Zeitung "Fessenheim" wahrgenommen. Sie nennt den Text eine "lokalpolitische Abrechung".

Ich nenne hier mal alle im Fessenheim-Text auftauchenden Figuren beim Namen -

- offenbar allesamt Freiburger Lokalpolitiker:


Erasmus von Rotterdam Jan Hus Johann Peter Hebel Ludwig van Beethoven Wolfgang Amadeus Mozart Johann Wolfgang von Goethe Friedrich Schiller Immanuel Kant Friedrich Krupp Marcel Reich-Ranicki Carl Schurz Hellmuth Karasek Ingeborg Drewitz Otto Jägersberg Richard Wagner Robert Stolz Adrienne Goehler Robert Altman Sophia Loren Marcello Mastroianni Steffen Seibert Rosa Luxemburg Angela Merkel Orson Welles Adalbert Stifter Nicolas Sarkozy François Hollande Helena Orion Mephisto Imperia Undine Paracelsus Kopernikus Wolfgang Döblin Alfred Döblin Sébastien Le Prestre de Vauban Martin Luther Brüder Grimm Martin Heidegger Wolfgang Rihm Helmut Lachenmann Bernd Alois Zimmermann Andreas Dilger Django Reinhard Christoph Meckel Jacob Burckhardt Heinrich von Kleist Heinrich Heine



28. August 2013 - Jemand schreibt mir mal wieder einen freundlichen Brief und will mit meinem Namen spielen, schreibt Lode(n)mann. Liegt nahe, ist aber nicht richtig - "Loden" (von denen erzählt ein Gedicht der Droste) waren und sind im Niederdeutschen die Triebe im Unterholz, die steil nach oben wollen und müssen, ans Licht, und die sich nicht lange aufhalten können mit Zweigen und Ästen. Reisigsammler dürfte erster "Lodemann" gewesen sein.

Einige sagen meiner Schreiberei nach, auch das hätte was vom "Schnell auch noch nach oben Wollen", Grass, Lenz, Walser, Handke etc. waren längst oben und machten sich breit. Und es gibt halt im Norden "-loh" als "-wald" und auch im Süden die "Lohe" und das "Lodern" und dazu die "Leute", die immer so triebhaft viele Kinder zeugen, diese "Leute" (und das Volk und die ProLETen) heißen im Althochdeutschen "diet" oder "teut" oder "Teutonen", woraus "deutsch" wurde, "deutsch" meint also nichts als "Leute", Pöbel und Plebs, meint diejenigen, die keine Herrschaftssprachen konnten, nicht Latein oder so, sondern die, die deutsch redeten, im besten Fall deutlich. Sagt der FreiBurger.